

Mitte Juni wählte die Abgeordnetenversammlung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds (SEK) den 42-jährigen Waadtländer Roland Decorvet, Chef von Nestlé Schweiz, in den neunköpfigen Heks-Stiftungsrat. Neben seiner internationalen Erfahrung seien vor allem das bisherige berufliche, kirchliche und soziale Engagement von Decorvet «glaubwürdiger Grund für seine Wahl», hatte SEK-Ratspräsident Thomas Wipf argumentiert.
Während die Wahl durch die SEK-Delegierten einstimmig (bei einigen Enthaltungen) erfolgte, führte sie bei kirchlichen Fachstellen – vorab bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Bereichen Ökumene, Mission und Entwicklung (OeME) – und engagierten Kirchgemeindebasisgruppen zu lautstarkem Widerstand. Inzwischen sind nicht nur offene Briefe ans Heks geschrieben worden, in mehreren Kantonen ist auch eine Unterschriftensammlung im Gang, in der gegen die Wahl Decorvets protestiert und befürchtet wird, mit dem
neuen Stiftungsratsmitglied drohe das Hilfswerk «seine pointierte anwaltschaftliche Position zu verlieren».
Claude Ruey, Sie haben mit der Wahl von Nestlé-Chef Roland Decorvet in den Heks-Stiftungsrat viel Kritik geerntet. Haben Sie das erwartet?
Ruey: Es gab auch viele positive Rückmeldungen: von Leuten, die betonten, wie wichtig es sei, im Stiftungsrat Leute mit ausgewiesenem Fachwissen zu haben. Aber klar, die kritischen Stimmen aus Kreisen der Deutschschweizer OeME-Fachstellen (Ökumene, Mission, Entwicklung) haben mich als Welschen total überrascht. Ich bin sehr zufrieden, dass mit Herrn Decorvet ein kompetenter, entwicklungspolitisch versierter und kirchennaher Manager bereit ist, den Heks-Finanzausschuss zu leiten. Roland Decorvets Engagement beim Heks ist rein persönlich motiviert. Er wird nicht die Interessen von Nestlé vertreten.
Liechti: Und wie will Herr Decorvet das trennen? Nestlé ist ein Nahrungsmittelkonzern – Heks unterstützt Landarbeiterinnen und
deren Gewerkschaften in Drittweltländern. Nestlé treibt die Privatisierung des Wassers voran – Heks sieht Wasser als öffentliches Gut. Heks und Nestlé vertreten nicht bloss unterschiedliche, sondern gegensätzliche Positionen. Die Wahl des Chefs von Nestlé Schweiz in den Heks-Stiftungsrat ist, wie wenn Novartis-Chef Daniel Vasella Einsitz nehmen würde in den Vorstand der Gewerkschaft Unia.
Ruey: Sie unterschieben Herrn Decorvet schlechte Absichten, noch bevor er sein Amt angetreten hat. Das schockiert mich! Wo bleibt da die christliche Toleranz? Wir können als Christinnen und Christen doch unterschiedliche Positionen einnehmen.
Liechti: Mir geht es keineswegs darum, die Person Roland Decorvets infrage zu stellen. Ich finde es toll, wenn ein Topmanager in der Kirche Freiwilligenarbeit leisten will. Es gibt viele Einsatzfelder für ihn, aber nicht im Heks-Stiftungsrat. Ich bin kein Fundi, Herr Ruey, ich bin durchaus für Gespräche zwischen Hilfswerken und Wirtschaftsvertretern. Und weil ich das bin, und weil ich die Wirtschaft in die Pflicht nehmen möchte, sollten Topwirtschaftsleute wie Herr Decorvet ein Visavis bleiben, mit dem man sich auseinandersetzen kann.
Ruey: Mein Vorgänger als Heks-Stiftungsratspräsident, Anthony Dürst, war Novartis-Manager. Und niemand hat ihn diffamiert. Bei Caritas Schweiz sitzen Wirtschaftsvertreter im Vorstand. Und kein Katholik protestiert. Ich habe Vertrauen in Herrn Decorvets Integrität. Und in Sachen Nestlé halte ich mich an Jacques Schneider, den grün-roten Genfer Politiker und ehemaligen Präsidenten der Ethos-Stiftung: Er attestiert Nestlé ein gutes ethisches Rating.
Jürg Liechti, Sie haben geschrieben, Roland Decorvets Wahl sei «Ausdruck einer schleichenden Entpolitisierung» beim Heks.
Was meinen Sie damit?
Liechti: Mich erschreckt die unpolitische Haltung sowohl beim Heks als auch beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK). Nestlé will doch mit der Einsitznahme beim Heks vorab seinen angeschlagenen Ruf aufpolieren. Zur Erinnerung: Kurz vor Decorvets Wahl kam die gravierende Geschichte mit der Nestlé-Spionin bei der globalisierungskritischen Bewegung Attac an den Tag. Die Entpolitisierung kommt mir auch auf den Heks-Plakaten entgegen: Hier erscheint Hunger als Naturkatastrophe. Kein Wort darüber, dass der Welthunger auch etwas mit unserem Reichtum zu tun hat. Lese ich die neue Heks-Strategie, dann fällt mir vor allem ein Wort auf: Wachstum. Heks will wachsen. Das ist lobenswert – aber es will dies anscheinend tun, indem es politische Stellungnahmen peinlichst umschifft.
Ruey: Noch einmal: Es stimmt nicht, dass Nestlé im Heks-Stiftungsrat Einsitz nimmt – Herr Decorvet hat sich als Privatperson zur Verfügung gestellt und Nestlé zu dieser Frage gar nie konsultiert.
Zum Wachstum: Ja, wir wollen wachsen, weil wir den Ärmsten in Drittweltländern, den Migranten in der Schweiz und den sozial Schwachen effizienter und professioneller helfen wollen. Das ist unser christlicher Auftrag, das ist Nächstenliebe gemäss Matthäus 25, 40.
Liechti: Mir gefällt, dass Sie theologisch argumentieren: Beim Heks fehlt mir das sonst total. Aber man kann aus der Bibel nicht nur die Nächstenliebe herauspicken. Zum Evangelium gehört auch die prophetische Seite, die Kritik an den Mächtigen und Reichen.
Ruey: Das ist nicht die Sache des Heks, sondern von Brot für alle (Bfa): Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) hat Bfa mit dem Mandat der Entwicklungspolitik betraut, Heks arbeitet mehr in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, Nothilfe und Öffentlichkeitsarbeit. Zwischen Heks und Bfa herrscht diesbezüglich eine klare Arbeitsteilung. Zudem: Kritik an den Reichen ist Kritik am Bösen, das in uns allen wirkt – bis zum Jüngsten Tag, bis zur Errichtung des Reiches Gottes auf Erden. Wir dürfen als Christen niemals vor dem Bösen kapitulieren. Aber es widerspricht christlicher Toleranz, wenn wir Bannflüche gegen die Reichen austeilen.
Liechti: Dazu ein konkretes Beispiel: Letztes Jahr wurde in Brasilien ein Aktivist der Landlosenbewegung (MST) bei einer symbolischen Landbesetzung ermordet: von einer Bewachungsfirma, die im Sold des Schweizer Agrochemie-Konzerns Syngenta steht. Heks unterstützt zwar die brasilianische Bewegung der Landlosen (MST) finanziell – aber hat sich dem offenen Protestbrief an die Adresse Syngentas nicht angeschlossen. Ein Beispiel mehr für die wachsende Entpolitisierung.
Ruey: Ich kenne diesen Fall nicht. Ich kann Ihnen aber versichern, dass sich Heks politisch engagiert, wenn ein klarer Bezug zur praktischen Projektarbeit besteht und sich damit die Situation von Menschen effizient verbessern lässt.
Entpolitisierung hin oder her: Heks hat Erfolg. Letztes Jahr hat das Hilfswerk bei den Kirchgemeinden ein Rekordspendenergebnis eingefahren, und die Aktion «Gib e Geiss» rund um Ex-Mister-Schweiz Renzo Blumenthal kommt an. Hat, wer Erfolg hat, nicht auch Recht, Jürg Liechti?
Liechti: Natürlich ist mir der Erfolg des Heks nicht gleichgültig. Ich sammle Jahr für Jahr mit Jugendlichen rund 20 000 Franken für das Hilfswerk. Und als OeME-Kommission der Stadt Bern kämpfen wir dafür, dass die Gesamtkirchgemeinde ihren Jahresbeitrag von einer Million Franken für Entwicklungshilfswerke und Missionen nicht reduziert. Vorderhand werde ich mich weiterhin engagieren. Aber ich erwarte eine Rückbesinnung auf die evangelischen Wurzeln: Ewig werde ich nicht zuschauen, wie das Heks vor lauter Marketingdenken seinen politisch-prophetischen Auftrag vergisst.
Heks steht in der Kritik, Claude Ruey, und Sie wollen näher an die Kirchen heran – wann stellen Sie sich an einem Podium den kritischen Fragen von besorgten Drittweltengagierten?
Ruey: Ich lehne grundsätzlich nie eine Einladung zum Gespräch ab. Es wäre aber sinnvoller, über Inhalte zu diskutieren als über die Wahl eines Stiftungsrats. So werden wir die neue Strategie des Heks den Kirchenverantwortlichen auf Kantons- und Gemeindeebene gerne erläutern. Aber ich ziehe persönliche Gespräche öffentlichen Podien vor.
Gespräch: Samuel Geiser, Martin Lehmann
Zu den Personen:
Claude Ruey
ist 59-jährig und lebt in Nyon VD. Der promovierte Jurist sitzt seit 1999 für die Liberale Partei der Schweiz – die er von 2002 bis 2008 auch präsidierte – im Nationalrat. Nebst Mandaten und Ämtern in zahlreichen kulturellen Institutionen (Präsident ProCinema Suisse, Präsident Helvetia Latina, Präsident Stiftung Schloss Chillon) ist Ruey Stiftungsratspräsident des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz (Heks).
Jürg Liechti
ist 50-jährig und Pfarrer in der Kirchgemeinde Johannes in Bern. Liechti
hat sich weit über kirchliche Kreise hinaus als Globalisierungskritiker einen Namen gemacht. Mehrfach in Erscheinung getreten ist der Kopräsident der OeME-Kommission der Gesamtkirchgemeinde Bern im Zusammenhang mit der Kritik am «Open Forum», dieser vom Kirchenbund (SEK) initiierten Diskussionsveranstaltung in Davos, die parallel zum WEF stattfindet.
«Reformiert.» 25.7.2008