Die Wahl von Nestlé-Schweiz-Chef Roland Decorvet in den Heks-Stiftungsrat stösst auf Widerstand. Manche fürchten, das kirchliche Hilfswerk verkomme zur Fundraising-Institution.
«Ich habe keinerlei Absicht zurück zu treten, im Gegenteil. Heks und der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK haben mir in den letzten Wochen verschiedene Male beteuert, dass sie auf mein Engagement zählen.» Das sagt auf Anfrage der Direktor von Nestlé Schweiz, Roland Decorvet, den die Abgeordnetenversammlung des SEK in den Stiftungsrat des evangelischen Hilfswerks gewählt hat.
Ein engagierter Pfarrerssohn
Das war Ende Juni. Seither werden die Protestnoten gegen die Wahl immer zahlreicher. Sie sprechen von einer institutionellen Unverträglichkeit: Die Interessen des Weltkonzerns Nestlé seien unvereinbar mit den Interessen eines kirchlichen Hilfswerks, monieren etwa die Organisatoren der Politischen Abendgottesdienste.
Den Bittstellern zum Trotz sehen SEK und Heks keinen Grund, die Wahl zu überdenken. Immerhin will die Exekutive (Synodalrat) der Kirchen Bern-Jura-Solothurn laut ihrem Sprecher Thomas Gehrig das Thema erörtern – nach den Sommerferien. Bei der Wahl hätten sich die Abgeordneten aus Bern der Stimme enthalten, auch darum, weil sie von Decorvets Kandidatur erst im letzten Moment erfahren hätten. SEK-Sprecher Simon Weber meint demgegenüber, die Versammlung habe genügend Zeit gehabt, über die Wahl nachzudenken. So hätten die Abgeordneten den in der Waadtländer Kirche engagierten Pfarrerssohn einstimmig und oppositionslos gewählt.
Kritische Stimmen wurden in der Tat erst hinterher laut. Das Guatemala-Netz Zürich erinnert in einer Briefaktion daran, wie der Riese Nestlé einen Spitzel in die kleine globalisierungskritische Organisation ATTAC einschleuste, nur weil diese ein kritisches Büchlein über den Globalplayer vorbereitete. Mit einem Nestlé-Manager im Stiftungsrat könne sich Heks künftig nicht mehr glaubwürdig für die Achtung der Menschenrechte oder einen kostengünstigeren Zugang der Verarmten zum Trinkwasser einsetzen.
Nestlés aggressive Privatisierungspolitik beim Wasser ist auch Gegenstand der Unterschriftensammlung von Marianne Spiller, einer der fünf Schweizerinnen, die zusammen mit 1000 Frauen 2005 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde. Sie erinnert daran, dass der SEK die ökumenische Erklärung zum Wasser als Menschenrecht und öffentliches Gut unterzeichnet habe. Nestlé indessen treibe weltweit riesige Geschäfte mit Trinkwasser, kaufe Trinkwasserquellen auf und verkaufe Flaschenwasser in der ganzen Welt.
Die Schweizerin, die sich in Brasilien um Strassenkinder kümmert, wirft Decorvet vor, er selber habe als vormaliger Generaldirektor von Nestlé Pakistan eine umstrittene Milchkommerzialisierung vorangetrieben. Überhaupt stünden die Interessen des Nahrungsmulti, der kleinbäuerliche Strukturen der Selbstversorgung zerstöre und mit eigenen Produkten regionale Erzeugnisse verdränge, ganz im Widerspruch zu der vom Heks propagierten Ernährungssouveränität.
Heks-Direktor Ueli Locher erhofft sich offenbar, dass Decorvet dem Hilfswerk bisher verschlossene Türen zu Wirtschaftskreisen öffnet. Auf Anfrage versichert er, man habe Decorvet als Privatperson gewählt: «Mich interessiert nicht so sehr, wo jemand arbeitet, sondern ob er unsere Werte überzeugt mitträgt.» Das Hilfswerk brauche einen Finanzexperten. Seit den 90er Jahre gebe es einen Trend zur Professionalisierung der Hilfswerk-Stiftungsräte. Im übrigen habe die Ethos-Stiftung Nestlé eben ein gutes Rating punkto Sozialverträglichkeit und Nachhaltigkeit ausgestellt. Locher versichert, im Heks finde keine Kehrtwende statt: «Wir werden weiterhin kritisch sein.»
Immer weniger kirchlich
Doch das wird extern wie intern bezweifelt. Man fürchtet, dass das Heks zur reinen Fundraising-Institution wird, die nur noch mit der Deza und der Glückskette zusammenarbeitet und den Charakter eines kirchlichen Hilfswerks mehr und mehr verliert – und damit auch seine Verankerung in den Kirchgemeinden. Im neuen Strategie-Papier heisst es zwar, dass das Hilfswerk seine Präsenz in den Kirchgemeinden verstärken will und eine grössere Nähe zu den Mitgliedern der Landeskirche sucht.
In der Praxis sieht das freilich anders aus. In der 7-köpfigen Heks-Geschäftsleitung gibt es nur noch einen Theologen. Locher selber ist kein Kirchenmann. Im Strategiepapier fehlt zudem jeglicher Hinweis auf die ökumenische Bewegung oder die Befreiungstheologie, die für progressiv ausgerichtete kirchliche Hilfswerke eine wichtige Referenz ist. Ein im Dezember verschickter Spendenaufruf kommt ohne Verweis auf die Advents- und Weihnachtszeit aus. Und ein Mailing im Juni ruft angesichts der Hungerkrise zu mehr Spenden auf, ohne die (preis-)politischen Hintergründe zu erörtern.
Kritische Beobachter überrascht das wenig – weil sich der SEK immer wieder neu zu profilieren versucht, etwa mit dem Open Forum Davos. An die Dialogplattform hat der Kirchebund Nestlé-Welt-Chef Peter Brabeck und andere illustre Wirtschaftsführer eingeladen. Statt dass die Kirche am Open Forum als Anwältin der Armen Partei ergreife, gebe sich der SEK als Moderator mit Scheindialogen zufrieden, monierten die Kritiker fast gleich lautend wie jetzt bei der Wahl von Roland Decorvet.
Aucun commentaire:
Enregistrer un commentaire