
Vierzig Jahre lang hat die pensionierte Zürcher Pfarrerin Leni Altwegg Monat für Monat dem Heks treu gespendet: nämlich drei Prozent ihrer Lohnsumme. Jetzt hat die altgediente Drittweltengagierte ihre Zahlungen ans Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (Heks) vorläufig sistiert. Die Wahl Roland Decorvets, Generaldirektor Nestlé Schweiz, in den Heks-Stiftungsrat zeige «eine Tendenz zur schleichenden Anpassung an die Mächte dieser Welt». Und das könne sie nicht mittragen, so Leni Altwegg.
«Wir wissen nicht, wie wir diese Wahl vor unsern Kirchenmitgliedern vertreten können», erklärt Dieter Sollberger, reformierter Pfarrer in Horgen ZH: «Wie zwei so verschiedene Schuhe zusammengehen sollen – hier der Weltkonzern, dort das kleine Hilfswerk –, ist uns ein Rätsel.» Bis dato durfte das Hilfswerk auf jährlich 40 000 Spendenfranken und regelmässige Kollekten aus Horgen zählen. «Wir sind seit Jahrzehnten loyal zum Heks – und möchten das bleiben: Aber wir sehen Erklärungsbedarf in der Wahl des Nestlé-Chefs», so Sollberger.
Verunsicherung. Horgen als Kirchgemeinde und Leni Altwegg als Einzelspenderin sind keine Sonderfälle: Das Heks wird derzeit mit Post zum Fall Decorvet eingedeckt. «Die Wahl verunsichert viele Pfarrpersonen und entwicklungspolitisch Engagierte», ist in einem offenen Brief der Ökumene-, Mission- und Entwicklungsbeauftragten (OeME) an den Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) zu lesen. Nestlé gewinne durch die Partnerschaft mit dem Heks «an ethischem Ansehen» und poliere so sein Image auf.
Und das kann der Nahrungsmittelkonzern brauchen. Denn er ist in die Schlagzeilen geraten: wegen einer publik gewordenen Bespitzelung der globalisierungskritischen Gruppe Attac-Waadt durch eine Securitas-Agentin – im Auftrag von Nestlé.
Bespitzelung. Und just diese zum Gerichtsfall avancierte Spionageaffäre, die auf die Jahre 2003 / 2004 zurückgeht, als Decorvet noch nicht Nestlé-Chef war, färbt jetzt auch auf die Auseinandersetzung rund um dessen Wahl in den Heks-Stiftungsrat ab.
Ende August zitierte die «Wochenzeitung» (WoZ) Passagen aus einem 77-seitigen Protokoll der Securitas-Spionin, das Nestlé Schweiz einem Waadtländer Zivilgericht hat aushändigen müssen. Danach interessierte sich die Spitzelin insbesondere auch für Reisen des brasilianischen Wasseraktivisten Franklin Frederick in die Schweiz. Dieser kämpfte damals gegen das Ansinnen von Nestlé, brasilianische Mineralquellen im Bundesstaat Gerais zu privatisieren und das Wasser unter dem Label «Pure Life» zu vermarkten. Erfolgreich notabene: Der Konzern gab den Plan auf.
Pikant: Franklin Frederick war und ist auch Fachexperte kirchlicher Gremien, namentlich der Fachstelle OeME der reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn: So beteiligte sich Frederick etwa an der Ausarbeitung der «Ökumenischen Erklärung zum Wasser als Menschenrecht». In diesem Dokument erklären der Schweizer Evangelische Kirchenbund (SEK) und die Schweizer Bischofskonferenz gemeinsam mit den brasilianischen Kirchen, Wasser sei «grundsätzlich ein gemeinsames Gut, das nicht zu privatisieren ist».
Befragung. Jetzt fordert Franklin Frederick Nestlé Schweiz zur Stellungnahme auf, wie er gegenüber «reformiert.» erklärt: «Ich will wissen, ob auch mein E-Mail-Verkehr überwacht worden ist und ob die Observierung bis heute weitergeht.» Und auch Albert Rieger, Leiter der Berner Fachstelle OeME, will eine Klärung: «Ich erwarte, dass Herr Decorvet in seiner Doppelfunktion als Nestlé-Direktor und Heks-Stiftungsrat das ganze Ausmass der Bespitzelung offenlegt. Wurden auch Kirchenmitarbeiter in der Schweiz ausspioniert?»
«reformiert.» hat Roland Decorvet die Fragen unterbreitet, allerdings bis Redaktionsschluss keine Antworten erhalten – wegen Ferienabwesenheit, so die Auskunft aus Vevey.
Rechtfertigung. Was sagt der SEK als zuständige Wahlbehörde zur wachsenden Kritik? Wenig Neues. SEK-Sprecher Simon Weber betont, Roland Decorvet sei «demokratisch und korrekt» gewählt worden. Und Heks-Geschäftsführer Ueli Locher unterstreicht, Decorvet sitze als «Privatperson» im Stiftungsrat. Der Nestlé-Chef teile «als Christ und Mensch» die Heks-Werte.
Ob die Antworten von SEK und Heks auf die Fragen der verunsicherten Basis genügen, wird sich zeigen. Denn inzwischen haben sich auch reformierte Kantonalkirchen zu Wort gemeldet. «Wir haben die symbolische Bedeutung der Wahl unterschätzt», sagt etwa die Zürcher Kirchenrätin Jeanne Pestalozzi selbstkritisch. Die Kirchenregierung wünsche eine öffentliche Aussprache zwischen SEK, Heks und Kritikern. Und die Berner Synodalrätin Pia Grossholz meint: «Roland Decorvet ist nicht in die Nestlé-Spitzelaffäre involviert: Aber er sollte klar dazu Stellung nehmen – und so zeigen, dass er den Rollenkonflikt Nestlé-Heks meistern kann.» Samuel Geiser
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